In den letzten Tagen fiel mir wieder auf, wie alt ich dieses Blog ist, wie viel wir hier schon erlebt haben mit Blog-Kommentaren und dass es eine jüngere Social-Media-Generation gibt, die das alles nicht mitbekommen haben kann … ich möchte daher noch ein paar Sätze zu dem Thema tippen.
Einige Tweets und FB-Posts zum gerade von uns installierten Plugin, mit dem ich bestimmte Kommentare „weiß machen“ kann, lauteten nämlich in etwa „Spreeblick färbt rassistische Kommentare weiß ein“ oder „Spreeblick weißt Nazi-Kommentare“ – und das trifft es nicht ganz. Wirklich rassistische Kommentare oder solche von klaren Nazis würde ich anzeigen und löschen. Die Kommentare, die ich weiß kennzeichne, sind viel subtiler. Sie versuchen sich – meiner Meinung und Erfahrung nach – am sogenannten Derailing.
Eindeutig rassistische Kommentare oder Aufrufe zur Gewalt gibt es auf Facebook, in diesem Blog aber schon lange nicht mehr und auch früher selten. Denn den Kommentatoren ist sehr klar, dass wir ihre IP haben und sie anzeigen könnten. Zudem bringen solche Hass-Kommentare den Absendern überhaupt nichts, die meisten Blogs löschen das Zeug sofort.
Das haben auch schlauere Rechtsextreme, Rassisten und Neonazis gelernt (die nämlich keineswegs alle dumm sind oder nicht schreiben können) und sich daher seit vielen Jahren eine Kommunikationsstrategie angeeignet, die sich Derailing nennt. Entgleisung. Einfach mal bei Google eingeben, das gibt es Definitionen und Anleitungen, wie so etwas funktioniert.
Es geht beim Derailing in erster Linie darum, eine Debatte an sich zu reißen, ihr Thema zu ändern und dabei die inhaltliche Oberhand zu gewinnen. Es geht auch darum, sich dabei relativ klug auszudrücken, um anderen Leserinnen und Lesern zu suggerieren: Guck mal, das ist gar nicht so dumm, was der da schreibt, irgendwie hat er ja auch recht. Es geht darum, Sympathien für Strömungen zu gewinnen, in vielen Fällen für rechtsextreme Strömungen (aber Derailing funktioniert auch bei allen anderen Themen).
Klassisches Beispiel: Mittels Derailing die Debatte von rechts nach links leiten. Ich schrieb hier über den Umgang mit Rechtsextremismus. Und sofort versuchen einige Kommentare, stattdessen über Linksextremismus zu reden. Das provoziert andere Leserinnen und Leser, man diskutiert tatsächlich über Linke und ist plötzlich völlig weg von der ursprünglichen Frage, wie man in Deutschland mit Neonazis umgeht.
Das funktioniert ärgerlicher Weise sehr oft. Wenn es um Gewalt gegen Ausländerinnen oder Ausländer geht, kommt jemand mit „Aber es gibt ja auch Gewalt gegen Deutsche“, wenn wir über Heidenau sprechen, bringt jemand eine Demo von Linken ins Spiel. Und wenn wir die latente und sichtbare Gefahr von Rechts thematisieren, versuchen manche Kommentare zum Thema „verfehlte Asyl-Politik der Bundesregierung“ zu lenken, als gäbe es Neonazis nur wegen der aktuellen Flüchtlingssituation. So geht Derailing. Es sind Ablenkungsmanöver, die so lange durchgezogen werden, bis die ursprüngliche Debatte nicht mehr möglich ist.
Debatten sind nur dann welche, wenn verschiedene Meinungen aufeinander treffen und ich habe daher überhaupt kein Problem damit, gesittet mit Konservativen oder auch mal Rechten zu diskutieren. Solange wir beim ursprünglichen Thema bleiben. Wenn jemand versucht, Derailing zu betreiben, schreite ich ab einem bestimmten Punkt ein. Ich habe das viel zu oft erlebt, ich beobachte es fast überall (nicht nur online) und ich halte es – nicht in allen, aber in vielen Fällen – für eine sehr gefährliche Strategie, welche die Gesellschaft verpestet. Auch offline.
Hört euch in eurem Bekanntenkreis einfach mal um, wie viele Menschen inzwischen Verständnis dafür haben, dass Bewohner von Kleinstädten und Dörfern Angst vor Migranten haben. Wie verständlich es geworden ist, dass ein Dorf mit wenigen tausend Einwohnerinnen und Einwohnern natürlich Probleme mit 500 Flüchtlingen hat, dass den Einwohnern „unwohl“ ist bei so vielen Fremden. Das gilt inzwischen als völlig nachvollziehbare, fast natürliche oder gottgegebene Reaktion.
Aber warum? Es gibt genügend Beispiele aus der ganzen Welt, bei denen das Gegenteil der Fall ist. Die Möglichkeit aber, dass ein Dorf mit einem großen Willkommensfest auf die teils temporären, teils bleibenden neuen Einwohner reagiert; die Möglichkeit, dass man sich voller Spannung auf „die Neuen“ freut, sie warmherzig empfangen, neugierig mit ihnen reden, ihnen vielleicht auch zeigen möchte, dass sie in Sicherheit sind – die gibt es gar nicht mehr. Wir denken in diese Richtung gar nicht mehr.
Auch das ist ein Ergebnis von Derailing, auf das auch die „etablierten“ Medien hereinfallen, indem sie Artikel schreiben, die sich mehr mit dem beschäftigen, was einige Laute diktieren, als mit dem, was wirklich wichtig ist.
Das Perfide ist: Natürlich bringt jedes Thema viele andere mit sich. Natürlich kann man über bestimmte Herausforderungen selten völlig losgelöst von anderen Baustellen diskutieren. Um wirklich an Lösungen zu arbeiten, braucht es dennoch Fokus und man muss sehr vorsichtig sein, sich dabei nicht aufs Glatteis führen zu lassen. Um genau das etwas deutlicher zu machen, färben wir Kommentare weiß, die wir für Derailing halten, ob beabsichtigt oder zufällig. Wir verstehen das als Hinweis für Leserinnen und Leser, die sich weiterhin selbst eine Meinung bilden können, indem sie den betreffenden Kommentar etwas umständlicher immer noch lesen können.